3944 Wörter · ⌛ 20 Min.
Martina Klausner ist Professorin für Digitale Anthropologie und Science and Technology Studies am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt.
Digitale Daten spielen eine zunehmend wichtige Rolle in politischen Aushandlungen und Konflikten. Als scheinbar neutrale Ressource, aus der Erkenntnisse gewonnen werden können, werden Daten als Referenz für Faktizität und Evidenz herangezogen, um politischen Forderungen Gewicht zu verleihen. Mehr Daten versprechen mehr Transparenz, evidenzbasierte Entscheidungen, effiziente Lösungen für Probleme gegenwärtiger Gesellschaften. Data fixes sind längst Teil des immer größer werdenden Repertoires von techno fixes geworden, dem techno-futuristischem Versprechen, gesellschaftliche Probleme und politische Fragen mit technologischen Mitteln und/oder Big Data zu lösen.
Man mag diese Ansätze kritisch sehen, als leere Versprechen, die an den eigentlichen Problemen vorbeigehen. Wollen Bürger:innen wirklich ein digitales Abbild ihrer Stadt – oder funktionierende Bürgerämter mit verfügbaren Terminen? Eine weitere App, die den morgendlichen Stau anzeigt – oder lieber eine sichere und nachhaltige Verkehrsinfrastruktur für alle? Ungeachtet der Antworten ist an diesen Versprechen jedenfalls interessant, dass Daten ein transformatives Potential zugesprochen wird – sie beschreiben die Welt nicht nur, sie haben das Potential oder gar die Aufgabe sie zu verändern.
Daten beschreiben die Welt nicht nur, sie haben das Potential oder gar die Aufgabe sie zu verändern.
An diesem Potential werde ich in diesem Beitrag anknüpfen und mit dem Begriff der Datenpolitiken zweierlei versuchen: Erstens geht es mir um eine pointierte Lesart von Daten als transformative Objekte. Daten indizieren nicht nur Vergangenes und Gegenwärtiges – sie sind, wie mit den Versprechen bereits angedeutet, gleichermaßen spekulativ und verweisen in die Zukunft – auf das, was sein kann und sein soll. Diese Lesart von Daten als transformative Objekte werde ich nutzen, um ein spezifisches Zusammenspiel von Daten und Politiken herauszuarbeiten. Im Einklang mit einem grundlegenden konstruktivistischen Denken in den Science and Technology Studies meint Datenpolitiken erstens den inhärent politischen Charakter von Daten. Daten kommen nicht neutral oder ‚roh‘ auf die Welt (G. C. Bowker 2005; Gitelman 2013); bereits im Moment ihres Entstehens sind Interessen, Werte, Machtverhältnisse, Ausblendungen in Daten und ihre Infrastrukturen eingeschrieben (G. Bowker und Star 1999).
Neben diesem inhärent politischen Charakter von Daten meint Datenpolitiken zweitens aber auch das explizite Politikmachen mit Daten als Nachweis von Faktizität und Evidenz. Ethnographische Untersuchungen des Politikmachens mittels Daten widmen sich mittlerweile einer Bandbreite von politischer Praxis – von Datenpolitiken als neuem Verhältnis zwischen Staat und Bürgerschaft (Isin und Ruppert 2015), über alternative, aktivistische Datenpolitiken (Milan und van der Velden 2016) hin zu unterschiedlichen Mischformen wie partizipativen oder propositionalen Formen des Politischen (Dányi u. a. 2021; Gabrys 2016; Knox 2020).
Im zweiten Schritt werde ich diese Lesarten von Daten als transformativ und politisch für die Diskussion meiner aktuellen Forschung zu Datenpolitiken in der Mobilitätswende der Stadt Frankfurt am Main nutzen. In diesem Projekt gehen wir dem Politik-Machen mit (Mobilitäts-) Daten durch unterschiedliche Akteure sowohl in der Verwaltung als auch durch zivilgesellschaftliche Initiativen nach. Gleichzeitig folgen wir Daten auf ihren Reisen – von ihrer Entstehung auf der Straße, in und quer zu unterschiedlichen Verwaltungskontexten und Infrastrukturen bis hin zu politischen Aushandlungen und Konflikten. In diesem Beitrag stelle ich erste explorative Zwischenergebnisse aus unserem Nachspüren von Datenpolitiken vor.
Die inhärent politische Natur von Daten
Wir leben in einer Zeit, in der Daten nach wie vor Objektivität und eine universale Epistemologie implizieren; das heißt Daten wird, insbesondere in Big Data-Narrativen, eine Erkenntnismöglichkeit zugesprochen, die scheinbar kontextfrei und unabhängig der Entstehungsgeschichte von Daten ist. Dem hingegen betonen sozialwissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Daten vor allem die Vielfältigkeit und Partikularität von Daten und verorten sie in konkreten lokalen Welten und Kontexten (Douglas–Jones, Walford, und Seaver 2021; Söderström und Datta 2024). Ausgangspunkt ist dabei die performative Qualität von Daten, deren Infrastrukturen und soziotechnischen Arrangements: Daten werden nicht als „roh“ verstanden, als neutrale Abbildungen der Welt; vielmehr werden Daten als grundlegend performativ gerahmt. Daten bringen also die Objekte, die sie scheinbar nur beschreiben und repräsentieren, mit hervor (Gitelman 2013; G. C. Bowker 2005).
Daher betonen sozialwissenschaftliche und insbesondere ethnografische Beschreibungen von Datenpraktiken die Situiertheit von Daten in lokalen Kontexten und Datenkulturen (Loukissas 2019) und ihre Vielfältigkeit in der Praxis (Douglas–Jones, Walford, und Seaver 2021), in den verschiedenen Stadien ihrer Produktion oder „Erfassung“ (Cruz 2022), in der Arbeit, die mit der Pflege von Daten verbunden ist (Nadim 2016), in der Entwicklung und Implementierung von Datenverarbeitungsmethoden (Seaver 2017) und in den verschiedenen Narrativen, die durch Datenvisualisierungen, Modelle, Prognosen und dergleichen produziert werden (Dourish und Gómez Cruz 2018).
Die Betrachtung von Daten als performativ lenkt die Aufmerksamkeit auf die soziomateriellen Arrangements, auf die Verarbeitungsverfahren, Geräte, Plattformen, Software und Infrastrukturen, die für digitale Daten prägend sind. Im Einklang mit früheren Arbeiten zu Informationsinfrastrukturen, Klassifikationen und Standards (G. Bowker und Star 1999) betont ein solcher Ansatz die soziomateriellen Formatierung von Wissen durch digitale Informationsinfrastrukturen und arbeitet heraus, dass scheinbar rein technische Spezifikationen immer schon bestimmte soziale, kulturelle und politische Werte in datenzentrierte Modelle einschreiben (Gitelman 2013; Kockelman 2013). Dabei werden Daten kontinuierlich angepasst, verändert und verworfen - sie sind in diesem Sinne selbst transformative Objekte, die von unterschiedlichen Interessen, materiellen Bedingungen, aber auch Organisationsstrukturen geprägt werden (Bates, Lin, und Goodale 2016).
Mit diesem Grundverständnis von Daten und Dateninfrastrukturen als performativ wird vor allem deutlich, dass Daten immer schon inhärent politisch sind. Gemeint ist damit, dass Daten bereits in ihrer Erstellung, Verarbeitung und Darstellung von unterschiedlichen historischen Entwicklungen, lokalen Datenkulturen und Interessen durchdrungen und damit als „matters of concern“ (Latour 2004), als Anliegen und nicht einfach als Fakten zu verstehen sind. Daten sind in diesem Sinne auch nicht an sich neutrale Vehikel der eigentlichen politischen Inhalte, sondern Mediatoren, also gestaltende Vermittler (Latour 2005). Das Politische wird Daten nicht von außen aufgezwungen; vielmehr sind Daten selbst mit politischen Entscheidungen und Werten durchdrungen (Jurgenson 2014).
Mit Daten Politik machen
Eine weitere Lesart von Datenpolitiken diskutiert, wie Daten beim Regieren, aber auch in politischen Aushandlungen und Konflikten genutzt werden, um Evidenz zu generieren und Probleme und ihre Lösungen zu visualisieren – also eine Datafizierung von Politik (Ruppert, Isin, und Bigo 2017; Bigo, Isin, und Ruppert 2019). Besonders offensichtlich wurde diese Datafizierung während der COVID-19-Pandemie, in der mit Verweis auf die aktuelle Datengrundlage weitreichende politische und rechtliche Entscheidungen legitimiert wurden.
Aber auch jenseits dieser offensichtlichen Datafizierung von Politik während der Pandemie wird in der Legitimation von politischen Entscheidungen (oder auch in der Forderung danach) zunehmend auf eine datenbasierte Evidenz verwiesen oder Daten werden als Entscheidungsgrundlage eingefordert. Als Teil eines evidenzbasierten Regierens versprechen Daten mehr Transparenz und bessere Nachvollziehbarkeit politischer Entscheidungen für die Bürger:innen. Wie Bigo, Isin, und Ruppert (2019, 4) betonen, bringen Daten damit neue Formen der Machtbeziehung und des Politik-Machens auf verschiedenen, miteinander verbunden Ebenen hervor. Und sie konfigurieren damit auch das Verhältnis von Bürger:innen und Staat neu als eine „digital citizenship“ (Isin und Ruppert 2015) oder „data citizenship“ (Gabrys 2019). Kritisch kommentiert wird dabei die neue Rolle, die Bürger:innen zukommt: Sie werden in der Regel als passive Datenlieferant:innen adressiert (Gabrys 2014, 2016) anstatt als grundlegende Mitgestalter:innen von politischen Strategien und Entscheidungen (Cardullo und Kitchin 2019). Problematisiert wird insbesondere der potentiell de-politisierende oder postpolitische Charakter von partizipativen Ansätzen, die Bürger:innen gewissermaßen „von oben“ zur Datenproduktion einladen.
Daten sind immer schon inhärent politisch.
Daten werden aber längst nicht mehr nur von staatlichen Akteuren und in etablierten politischen Institutionen eingesetzt, sondern auch von zivilgesellschaftlichen Initiativen und im politischen Aktivismus. Arbeiten zu dieser Form des expliziten oder auch impliziten Datenaktivismus heben das Potenzial hervor, mit Daten offizielle (Daten-) Politiken anzufechten und Gegennarrative zu produzieren (Fortun u. a. 2016). Daten, so stellen Milan und van der Velden fest, sind längst „the new currency for many processes within contemporary democracies“ (Milan und van der Velden 2018, 1). Entsprechende Untersuchungen befassen sich mit der Frage, wie eine Arbeit mit Daten „von unten“ alternative Interpretationen und Vorstellungen darüber liefert, wofür Daten stehen und was mit ihnen gemacht werden kann – jenseits einer Verfestigung von bestehenden Machtinteressen. Solch eine Gegenpolitik mit Daten und neu entstehende Formen des Datenaktivismus können damit einem positivistisch argumentierenden Mainstream-Diskurs der Datafizierung entgegenwirken (Milan und van der Velden 2016, 64; siehe auch Gabrys 2016).
Neben diesen Feldern einer offiziellen Datenpolitik von oben und einer aktivistischen Daten-Gegenpolitik adressieren weitere Forschungen gewissermaßen das Feld dazwischen und beschreiben dies als „propositional politics“, eine Art Politik, die die mehrdeutigen Formen der politischen Zusammenarbeit gerade auch zwischen Staat und Zivilgesellschaft betont (Dányi u. a. 2021; Knox 2020). Hervorgehoben wird der spekulative, experimentelle Charakter politischer Praktiken und die Rolle von non-humans in einer solchen Politik. Luft, Straßen, Sensoren, Dateninfrastrukturen und digitale Geräte (Marres und Lezaun 2011) werden explizit als Teilnehmer:innen an einer propositionalen Datenpolitik mitgedacht. Knox bezeichnet diese Form der propositionalen Politik politischer Akteure als „responsiv“, d. h. als aktive, teilweise auch subversive, Zusammenarbeit mit einer vorherrschenden technokratischen Expertise und Handlungsmacht, anstatt sich dieser von außen auf der Grundlage programmatischer Prinzipien entgegenzustellen (Knox 2020, 213).
Daten sind, so lässt sich zusammenfassen, nicht mehr aus den politischen Arenen wegzudenken und sind längst Bestandteil unterschiedlichster politischer Praktiken. Diese unterschiedlichen Ebenen von Datenpolitiken – als den Daten und Infrastrukturen inhärent und als Datafizierung von (Gegen-)Politiken – in der Forschung zusammenzudenken ist meines Erachtens entscheidend, um nachzuvollziehen, welche Rolle Daten im Politikmachen spielen und spielen können, und welche beabsichtigten und unbeabsichtigten Konsequenzen sich daraus ergeben.
Datenpolitiken in der Mobilitätswende in Frankfurt auf der Spur
Wie aber lässt sich ein solches mehrschichtiges Verständnis von Datenpolitiken in ethnografischer Forschung produktiv machen? Wie kommt man Datenpolitiken in ihrer vielfältigen Praxis auf die Spur?
Das Projekt „Datenpolitiken auf der Spur“ widmet sich mit zwei Fallstudien der Mobilitätswende in Frankfurt am Main und soll herausarbeiten, wie Daten in Politik und Verwaltung relevant gemacht werden – von der Stadtverwaltung und ihren Partnern, aber auch von politischen Gruppen wie Bürgerinitiativen und politischen Netzwerken.
Die Arbeit mit Mobilitätsdaten (bspw. sensorbasierte Daten zum Autoverkehrsaufkommen, händische Zähldaten der sogenannten Stadtrandzählung oder auch Daten aus bundesweiten Befragungen), bietet sich für eine kritische Auseinandersetzung mit Datenpolitiken gerade deshalb an, weil es einerseits eine lange Tradition der Erhebung von Daten im Verkehrsbereich gibt. Städte und Kommunen erheben seit Jahrzehnten routinemäßig Mobilitätsdaten für das Verkehrsmanagement und für die Verkehrsplanung. Andererseits betrifft diese Tradition der Datenerhebung vor allem Daten des motorisierten Individualverkehr, also Autos, was gerade für eine Umgestaltung der Verkehrsinfrastrukturen und eine datenbasierten Mobilitätswende einige Herausforderungen mit sich bringt. Nicht nur die Verkehrsinfrastrukturen sind also reformbedürftig, auch die Dateninfrastrukturen selbst müssen verändert und angepasst werden.
In der Praxis zeigt sich, dass nicht nur die Mobilitätsformen und entsprechenden Daten äußerst vielfältig sind, auch die Formen und Formate der Erfassung von unterschiedlichen Mobilitätsformen sind bemerkenswert heterogen: Sie umfassen Daten, die durch unterschiedliche Erhebungsformen generiert werden (z.B. händische Zähldaten oder sensorbasierte Dauererhebung), in unterschiedlichen Formaten und Analyseeinheiten, die wiederum von verschiedenen Organisationen und Akteuren zu unterschiedlichen Zwecken gesammelt werden – und sie müssen letztendlich verknüpft bzw. interoperabel gemacht werden (Boyd und Crawford 2012).
Mit diesem Fokus auf Mobilitätsdaten geht es also um mehr als nur die Forderungen nun auch andere Mobilitätsdaten jenseits des motorisierten Individualverkehrs einzubeziehen, sondern diese Heterogenität produktiv zu machen, um die vielfältigen politischen Einschreibungen in und Narrative mit Daten in den Blick zu nehmen. Uns interessieren in unserem Projekt gerade die „data frictions“ (Edwards u. a. 2011; Bates 2018), die in und durch Mobilitätsdatenpolitiken entstehen.
Das Verkehrsmodell als politisches Objekt und politischer Akteur
Die Mobilitätswende ist in Frankfurt, wie in anderen Städte auch, ein politisch umkämpftes Thema: Wer hat wie ein Recht auf Stadt? Wie werden urbane Räume gerade auch in Hinblick auf Klimawandel, auf Luftqualität und Gesundheit, auf Sicherheit, auf die Transformation der Innenstädte, aber auch in Hinblick auf veränderte Mobilitätspraktiken und -bedürfnisse neugestaltet und welche Anliegen sind in dieser Transformation ausschlaggebend?
Während mit Protesten auf der Straße, in aktivistischen Netzwerken, im Stadtparlament und in Beteiligungsformaten über die richtige Verkehrswende diskutiert und gestritten wird, obliegt die Umsetzung verkehrspolitischer Veränderungen am Ende der städtischen Verwaltung, die die Aufgabe hat, Frankfurts Mobilität für die Zukunft weiterzuentwickeln. Die alltägliche Arbeit in der Verwaltung scheint auf den ersten Blick nicht der klassische Ort zu sein, um Datenpolitiken zu untersuchen. Aber mit dem oben ausgeführten Verständnis von Daten als inhärent politisch lassen sich gerade diese vielfältigen Momente ihrer Erzeugung und Verarbeitung als datenpolitische Ereignisse diskutieren. Wie genau schreiben sich Vorstellungen einer guten Verkehrswende aber auch von einer städtischen Öffentlichkeit, von Gemeinwohl und gerechter Verteilung in Verwaltungsprozesse ein, welche beabsichtigten wie auch unbeabsichtigten Konsequenzen bringt das mit sich?
Diese Fragen möchte ich anhand eines konkreten Objektes diskutieren – ein Objekt, das auf dem ersten Blick vor allem als ein technisch-mathematisches Artefakt erscheint. Es handelt sich um ein neues datenbasiertes Verkehrsmodell, das in Frankfurt im Straßenverkehrsamt (in Zusammenarbeit mit einer externen Partnerfirma) entwickelt wurde und nun zum Einsatz kommen soll, um Prognosen über die Verkehrsentwicklung und Umweltauswirkungen unter Berücksichtigung von konkreten Maßnahmen zu erstellen. Wie verändert sich der Frankfurter Verkehr, wenn bestimmte Umgestaltungsmaßnahmen, wie beispielsweise fahrradfreundliche Nebenstraßen, durchgeführt werden?
Wir sind auf dieses neue Verkehrsmodell und das damit verbundene Data Hub gestoßen, als wir Mobilitätsdaten durch die Frankfurter Verwaltung gefolgt sind. An der Produktion und Verarbeitung von Mobilitätsdaten sind in der Verwaltung und darüber hinaus unzählige Akteure beteiligt. Das Data Hub in Frankfurter Straßenverkehrsamt ist ein zentraler Knotenpunkt, in dem unterschiedliche Daten-Reisen aufeinandertreffen. Das interessante an dem Modell für unsere Forschung ist, dass hier explizit die politisch geforderte Mobilitätswende in ein Berechnungsmodell übersetzt wird und dafür vorhandene, aber auch andere Daten als bisher herangezogen werden und im Rahmen der Modellierung in ein spezifisches Verhältnis zueinander gesetzt und gewichtet werden.
Das Data Hub in Frankfurter Straßenverkehrsamt ist ein zentraler Knotenpunkt, in dem unterschiedliche Daten-Reisen aufeinandertreffen.
Eine wichtige Neuerung im Vergleich zu bestehenden Verkehrsmodellen ist die Integration von Daten unterschiedlicher Verkehrsformen. Wie bereits erwähnt, werden bislang vor allem Daten über den Autoverkehr und des ÖPNV für das Verkehrsmanagement und die Verkehrsplanung herangezogen. Zu anderen Mobilitätsformen, insbesondere Fuß- und Radverkehr, liegen zumindest der Stadt wenige Daten vor und noch weniger werden sie bislang in der Verkehrsmodellierung berücksichtigt. Hier soll das neue Verkehrsmodell Abhilfe schaffen und ist damit auch Ausdruck des politischen Willens in der zukünftigen Verkehrsplanung nicht mehr ausschließlich dem Auto den Vorzug zu geben.
In unserer Forschung begreifen wir das Verkehrsmodell als ein device, das den Verkehr auf Frankfurts Straßen und damit den urbanen Raum auf eine technisch-mathematische und zugleich rechtliche und politische Weise rekonfiguriert. Mit dem Begriff device beziehe ich mich auf die Anthropologin Andrea Ballestero. Als devices beschreibt Ballestero (2019) verschiedene Instrumente und Verfahren, wie eine Formel oder einen Index, die in ihrem Beispiel in der Verwaltung aber auch von Menschenrechtsaktivist:innen in Costa Rica in der alltäglichen Arbeit genutzt werden, um den Wasserpreis für die Bürger:innen Costa Ricas zu berechnen. Anhand dieser devices zeigt Ballestero, wie sich hier unterschiedliche rechtliche und politische Grundannahmen einschreiben, die von den Akteur:innen durchaus kreativ genutzt werden, um entweder einer Marktlogik oder einer Menschenrechtslogik in der Berechnung des Wasserpreises zu folgen. Dadurch eröffnen sich durch diese scheinbar banalen devices immer wieder „the possibility for other possibilities“ (Ballestero 2019, 9) und für andere Zukünfte.
Für eine datenpolitische Spurensuche sind solche devices gerade deshalb interessant, weil sie Dinge von scheinbar unterschiedlichem ontologischen Status – Menschenrecht und Marktlogiken, Mathematik und Moral – untrennbar in einer „calculation grammar“ (Ballestero 2015, 265) verknüpfen. Dadurch werden Annahmen über Gemeinwohl, Gesellschaft, aber auch Moral, Recht und Politik miteinander verknüpft, in numerische Aussagen überführt und letztendlich mit der Macht des Faktischen ausgestattet. Gerade in der Gestaltung von Transformationen, wie in meinem Beispiel der Mobilitätswende, produzieren solche devices vor allem auch neues Wissen – über das Verhältnis von Umwelt, Gesundheit, und Verkehr.
Was aber tun, wenn relevante Daten fehlen? Zur kurzen Orientierung: In Frankfurt am Main wird mit 2187 Zählschleifen kontinuierlich der motorisierte Individualverkehr gemessen; diesen stehen derzeit acht Dauerzählstellen für den Radverkehr gegenüber. Um insbesondere die fehlenden Daten für den Radverkehr zu kompensieren, griffen die Ingenieure, die das neue Verkehrsmodell entwickelten, unter anderem auf ein Tool zurück, das ebenfalls von der Frankfurter Verwaltung betrieben wird: die online-Bürgerbeteiligungsplattform „Frankfurt fragt mich“. In einer zeitlich befristeten Online-Befragung wurden die Bürger:innen Frankfurts aufgerufen, ihre Radnutzung zu erfassen und sich dadurch in das Verkehrsmodell einzubringen. Im Fokus standen Häufigkeit, Entfernung und der ‚Wegezweck‘, die anhand numerischer Werte angegeben werden konnten.
Die Modellierung ist ein aktiver Gestaltungsprozess innerhalb der Verwaltung, wie der Verkehr der Zukunft aussehen soll.
Ähnlich wie wir in unserem Forschungsprozess immer wieder neue Datensätze und Datenvisualisierungen nachspüren, suchen und generieren die Mitarbeiter:innen im Straßenverkehrsamt aus ihrer Sicht für die Mobilitätswende relevante Daten und integrieren diese in ein Modell. Wie lässt sich die alltägliche Mobilitätspraxis in Frankfurt möglichst detailliert und realitätsnah erfassen und modellieren? Daten vom Schulamt zu den verschiedenen Schulen Frankfurts werden noch einmal differenziert nach Altersgruppen: Kommen die Kinder allein zur Schule oder werden sie von den Eltern gebracht? Im Entwicklungsprozess des Verkehrsmodells zeigt sich, dass in vielen kleinen Arbeitsschritten immer wieder Entscheidungen getroffen werden müssen, auf welche Datenquellen zurückgegriffen wird, welche Daten fehlen und neu geschaffen werden, und wie diese unterschiedlichen Daten schließlich innerhalb des Modells gewichtet werden. Die Modellierung ist kein einfacher Berechnungsprozess basierend auf vorhandenen Daten und Berechnungsmodellen, sondern ein aktiver Gestaltungsprozess innerhalb der Verwaltung, wie der Verkehr der Zukunft aussehen soll.
Gleichzeitig, und das wäre ein Thema für einen eigenen Beitrag, werden für das Verkehrsmodell technokratische Verfahren mit Verfahren einer partizipativen Demokratie gekoppelt, und eine mehr oder wenige zufällige Auswahl an Bürger:innen als Datenlieferant:innen für die Verkehrsplanung herangezogen. Durch die „calculation grammar“ des Verkehrsmodells werden also Vorstellungen von Öffentlichkeit und Beteiligung auf eine kreative, aber nicht beliebige Weise in die Verkehrsplanung eingeschrieben. Das Beispiel der partizipativen Daten-Sammlung über die Plattform „Frankfurt fragt mich“ stellt dabei nur einen kleinen Ausschnitt dessen dar, wie Frankfurter Bürger:innen an der Produktion und Interpretation von Mobilitätsdaten beteiligt sind. Neben dieser von der Verwaltung initiierten Erhebung zum Radverkehr erfassen verschiedene zivilgesellschaftliche und aktivistische Initiativen in Frankfurt auf eigene Faust Mobilitätsdaten; beispielsweise indem Radfahrer:innen mit selbstgebastelten Sensoren den Abstand von Autofahrer:innen beim Überholen von Radfahrer:innen messen, um auf besonders gefährliche Stellen in der Verkehrsführung aufmerksam zu machen. Für dieses Politikmachen mit Daten von unten, ganz im Sinne von Milans alternativen Datenpolitiken (Milan und van der Velden 2016), spielen Daten als Form der Beweisführung in politischen Aushandlungen ebenfalls eine wichtige Rolle – auch wenn sie nicht den Weg ins Verkehrsmodell gefunden haben. Insofern bleibt das Verkehrsmodell eine datenpolitische Arena unter vielen.
Ausblick
In meinem Beitrag habe ich erstes eine Lesart von Daten und ihren Infrastrukturen als transformative und inhärent politische Objekte angeboten. Übertragen auf unsere Spurensuche von Datenpolitiken in der Frankfurter Mobilitätswende eröffnet das den Blick für die unscheinbaren Tätigkeiten, die sich in der Verwaltung und konkreter im Straßenverkehrsamt in der Arbeit mit Daten abspielen und die das Suchen, Generieren, Anpassen und in Beziehungsetzen von unterschiedlichsten Datensätzen umfassen. In einem nächsten Schritt werden wir das Verkehrsmodell bei seiner Arbeit begleiten und die vermutlich ebenso vielfältigen und kreativen Arbeitsschritte herausarbeiten, die es braucht, damit mit diesem Modell die Zukunft der Frankfurter Mobilität gestaltet werden kann.
Erklärung zu Fördermitteln
Das Projekt „Datenpolitiken auf der Spur: Zwei ethnographische Fallstudien zu digitalen Daten in der Verkehrswende der Stadt Frankfurt/Main“ wird seit 2023 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert (Projektnummer 516320897). Die beiden Fallstudien werden von Janine Hagemeister, M.A., und Catharina Dietrich, M.A., bearbeitet.