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Strüver, Anke. 2025. Plattformarbeit und soziale Reproduktion: Wie werden Reproduktionsarbeiten durch digitale Technologien reorganisiert?. In: grid. 1–10. DOI: 10.6094/grid.2025.003. Online verfügbar unter: https://gridisnotajournal.de/articles/strüver-2025-plattformen.

Strüver, Anke. 2025. Plattformarbeit und soziale Reproduktion: Wie werden Reproduktionsarbeiten durch digitale Technologien reorganisiert?. In: grid. 1–10. DOI: 10.6094/grid.2025.003. Online verfügbar unter: https://gridisnotajournal.de/articles/strüver-2025-plattformen.


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Plattformarbeit und soziale Reproduktion: Wie werden Reproduktionsarbeiten durch digitale Technologien reorganisiert?

von Link to ORCID profile

  1. Department of Human Geography, RCE-Center for Sustainable Social Transformation, University of Graz

9. November 2025

DOI 10.6094/grid.2025.003 · Zitieren ·

Take sharing offline Aufkleber an einer Wand Take sharing offline Aufkleber an einer Wand
Foto: Yvonne Franz

Am Beispiel der prekären Arbeit von Essenslieferant:innen untersucht dieses Essay die Kommodifizierung sozialer Reproduktionsarbeit durch digitale Plattformen und die begleitenden Herausforderungen. Zudem wird die Frage aufgeworfen, inwiefern diese Entwicklungen zu einer Repolitisierung und Neubewertung des Wertes von Reproduktionsarbeit führen können.

2392 Wörter · ⌛ 12 Min.

2392 Wörter · ⌛ 12 Min.

Im März 2025 hat Lieferando Österreich all seine angestellten Rider gekündigt – und ihnen zugleich angeboten, künftig als freie Dienstnehmer:innen tätig zu sein, d.h. auf eigene Rechnung, auf eigenes Risiko und auf dem eigenen Rad. Lieferando gehört zum niederländischen Plattformkonzern Just Eat Takeaway, an dessen Übernahme der Technologieinvestor Prosus interessiert ist und der bereits Flink, Delivero Hero und weitere Essensschnelllieferdienste finanziert. Dass es bei diesen Plattformgeschäftsmodellen weniger um unmittelbaren Profit als um Marktanteile und Machtkonzentration geht, wurde bereits breit diskutiert. Auch die prekären Arbeitsbedingungen für die Rider – egal ob auf Basis des Mindesthungerlohns angestellt oder „frei“ und unabgesichert – stehen spätestens seit der COVID-19-Pandemie als Moment der Normalisierung von digitalen Plattformen für die maximal flexibel buchbare Lieferung von verzehrfertigen Mahlzeiten und Lebensmitteln in der medialen wie sozialwissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Der Tenor ist hier überwiegend kritisch, nämlich genau auf die Ausbeutung der Rider fokussiert, und auch die Berichte über die Umstellung von Angestellten auf freie Dienstnehmer:innen reihen sich hier ein.

Sticker
Sticker am Gürtel in Wien, März 2025

Während Lieferando diese Umstellung mit der „Schaffung von fairen Wettbewerbsbedingungen“ im Vergleich zu seinen Mitbewerberplattformen foodora und Wolt sowie der kundenfreundlichen Ausweitung von Lieferzeiten und -zonen begründet, ist es genau die fehlende Perspektive der Kund:innen, die die nachfolgenden Überlegungen inspiriert hat. Forschung zu/mit/über Kund:innen von Essensschnelllieferplattformen wie auch von anderen haushaltsnahen Dienstleistungsplattformen für Reinigungs- und Betreuungskräfte ist bislang eine Leerstelle – obwohl digitale Technologien in den letzten Jahren zahlreiche Veränderungen in der Organisation und Sichtbarkeit von Reproduktions- und Sorgearbeiten mit sich gebracht haben. Plattformen, die ortsbasierte Dienstleistungen wie die Lieferung von Lebensmitteln und Mahlzeiten, Haushaltsreinigungen („Putzen“) oder Sorgearbeiten wie Kinder- oder Senior:innenbetreuung vermitteln, haben dazu beigetragen, dass vormals unbezahlte oder informell renummerierte Reproduktionsarbeiten zunehmend marktförmig geworden sind. Dies führt zur sozialen, ökonomischen und räumlichen Reorganisation dieser Tätigkeiten durch Kommodifizierung und Externalisierung.

Diese Formen von Plattformarbeit sowie die ihr zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen und vor allem die Arbeitsum- bzw. -zustände für Lieferant:innen, Reinigungs- und Betreuungskräfte sind mittlerweile umfangreich thematisiert. Im wahrsten Sinne des Wortes im Hintergrund, nämlich verdeckt und (vermeintlich) privat, bleibt dabei gleichwohl häufig, welche und wessen Arbeiten „plattformisiert“ werden und die Fragen, (1) ob und wie sich dadurch der Wert von Reproduktionsarbeit – im materiellen wie im sozialen Sinne – transformiert und (2) inwiefern die Plattformisierung Reproduktionsarbeiten gesellschaftlich reorganisiert. Dieser Impuls basiert auf empirischen Auseinandersetzungen mit plattformvermittelter Hausarbeit (Putzen, Einkaufen, Kochen und Aufräumen) in mehreren Forschungsprojekten in Österreich und Deutschland und fasst feministische Perspektiven auf Plattformarbeit und soziale Reproduktion zusammen, die entlang von vier Stichwortpaaren – Plattformisierung und Externalisierung, Finanzialisierung und Feminisierung, Ungleichheiten und Unsicherheiten sowie Reorganisation und Repolitisierung – diskutiert werden.

Plattformisierung und Externalisierung von Reproduktionsarbeit

Arbeitsplattformen vermitteln Dienstleistungen zwischen Nachfragenden und Anbietenden. Ersteren wird oft unterstellt, dass sie erst durch die Existenz des Angebots zu Plattformkund:innen geworden sind. Letztere haben teilweise nur die Art der Vermittlung geändert oder erweitert, d.h. sie bieten Dienste wie Kinderbetreuung oder Putzen nicht mehr über Aushänge am Schwarzen Brett oder im erweiterten Freundeskreis an, sondern über Apps am Handy bzw. die dahinterstehenden Plattformtechnologien. Ungeachtet ihres Namens sind Arbeitsplattformen jedoch nur selten Arbeitgeberinnen. Sie vermitteln die Dienste, zum Teil personalisiert auf sogenannten Marktplätzen (z.B. Putzplattformen), zum Teil instantan, d.h. on-demand und Algorithmen-basiert, dafür aber nahezu in Echtzeit innerhalb von Großstädten. Plattformen für Essensschnelllieferungen sind dafür das bekannteste Beispiel, sie vermitteln die Lieferung verzehrfertiger Mahlzeiten wie auch von Lebensmitteln innerhalb von ± 30 Minuten und stellen damit ein grundsätzlich neues technosoziales Phänomen für die Vermittlung von Angebot und Nachfrage – bzw. für die Schaffung von Nachfrage – dar.

Essenslieferdienste sind ein Paradebeispiel dafür, dass und wie traditionell unbezahlte, reproduktive Tätigkeiten auf Haushaltsebene fragmentiert, kommodifiziert und entpersonalisiert sowie extern kontrolliert werden.

Wenngleich Essenslieferdienste oftmals „nur“ als Transportdienstleistungen gelten, sind sie zugleich ein Paradebeispiel dafür, dass und wie traditionell unbezahlte, reproduktive Tätigkeiten auf Haushaltsebene fragmentiert, kommodifiziert und entpersonalisiert sowie extern kontrolliert werden. Diese Kategorisierung verfolgt nicht das Ziel einer Universalisierung ortsgebundener Gig-Plattformen. Vielmehr ist die Einordnung als Reproduktionsdienstleistung zum einen der Art der ausgelagerten Tätigkeiten geschuldet, zum anderen eignet sie sich als Verweis auf die vom Geschlecht unabhängige Feminisierung und zunehmende Rassifizierung dieser Gig-Arbeiten. Sie entlasten Haushalte mit entsprechenden finanziellen Ressourcen von Aufgaben wie Einkaufen, Kochen und dem damit verbundenen Abwaschen und Aufräumen, indem sie die Bereitstellung von Lebensmitteln und verzehrfertigen Mahlzeiten auf Abruf ermöglichen und somit auch das Planen dieser Tätigkeiten ersetzen. Zu beobachten ist somit eine Kommodifizierung von Haushaltsaufgaben, die traditionell innerhalb der Familie oder des sozialen Umfelds geleistet wurden und nun marktfähige Dienstleistungen für einkommensstarke Personen mit Zeitarmut oder Bequemlichkeitsbedürfnis sind. Denn die Externalisierung von Reproduktionsarbeiten betrifft besonders Arbeiten, die als zeitaufwendig, nervig oder körperlich anstrengend empfunden werden. Dazu gehören neben Einkaufen und Kochen auch insbesondere das Putzen. Dementsprechend vermarkten Plattformunternehmen ihre Dienstleistungen häufig mit Life-Work-Balance-Versprechen wie individuellem Zeitgewinn und Stressvermeidung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie und insbesondere weiblicher Emanzipation – als Belohnung oder auch einfach als Ermöglicher von Komfort und Faulheit.

Delivery Werbung in Graz, April 2022
Delivery Werbung in Graz, April 2022

Finanzialisierung und Feminisierung: Lohn für Hausarbeit?

Die Plattformisierung verschiebt vormals unbezahlte Hausarbeiten zur sozialen Reproduktion in den Bereich der Erwerbsarbeit. Diese Art der Kommodifizierung von sozialer Reproduktion kann als neoliberale Antwort auf die feministische Forderung „Lohn für Hausarbeit“ der 1970er Jahre gelesen werden. Allerdings ging es damals nicht um die tatsächliche Bezahlung und/oder Institutionalisierung von Hausarbeit, sondern um die von Marx übersehene Rolle von weiblicher* Hausarbeit für die Existenz kapitalistischer Gesellschaften und somit um die Kritik an der Hausfrauen-Rolle bzw. um die Hinterfragung der Vergeschlechtlichung und Unbezahltheit von Hausarbeit.

Ein weiteres Element der Reorganisation von Reproduktionsarbeit durch digitale Technologien ist das der Finanzialisierung: Plattformen für Essenslieferdienste oder Putz- und Betreuungskräfte sind weder Wohltätigkeitsorganisationen noch überhaupt an der Erbringung dieser Dienstleistungen interessiert. Ihre Wertschöpfung basiert nicht auf verrichteter Liefer-, Putz- oder Betreuungsarbeit selbst, sondern (neben den eingangs angesprochenen Macht- und Marktinteressen von Tech-Investor:innen) auf der Inwertsetzung der mit der Vermittlung einhergehenden Daten und ihrer profitträchtigen Weiterverarbeitung und -vermarktung, z.B. an Werbekund:innen (Srnicek 2021).

Die Finanzialisierung mithilfe digitaler Technologien führt zu neuen Investitionsmöglichkeiten und verstärkter Prekarisierung der Arbeitsbedingungen.

Diese Finanzialisierung hat weitreichende Folgen: Zum einen entstehen durch die Plattformunternehmen neue Märkte für Investitionsmöglichkeiten in vormals unbezahlte oder informelle Arbeiten. Zum anderen entstehen vermehrt flexible und unabgesicherte Arbeitsverhältnisse durch die Notwendigkeit, Renditen für Investor:innen zu erwirtschaften. Die Konsequenz ist eine verstärkte Prekarisierung der Arbeitsbedingungen, da Plattformen Kosten minimieren und gleichzeitig maximale Flexibilität für Kund:innen sicherstellen wollen. Dafür nutzen sie gezielt Mechanismen der Risikoauslagerung: Während Plattformen als Vermittler kaum eigene physische Infrastruktur vor- und unterhalten, tragen die Arbeitskräfte als freie Dienstnehmer:innen die Risiken finanzieller Unsicherheit durch Arbeitsausfälle aufgrund fehlender Aufträge, aber auch Krankheit und körperlicher Erschöpfung.

Durch die „Gigifizierung“ sozialer Reproduktionsarbeit führen Plattformen also die soziale wie materielle Abwertung sowie die Feminisierung sozialer Reproduktionsaufgaben fort – und zwar unabhängig davon, wer die Arbeit verrichtet. Für Essenslieferplattformen fahren bspw. vorrangig Männer*; die Feminisierung verweist hier gleichwohl nicht auf das Geschlecht der Rider, sondern auf die Feminisierung der Arbeitsbedingungen: Bezahlung pro Gig (Stücklohn, Auftragslohn), die ständige Verfügbarkeit für flexibel angefragte Aufträge, fehlende Aufstiegschancen und die Universalisierung von Prekarität.

Ungleichheiten und Unsicherheiten

Die Kategorisierung von Essenslieferungen als plattformisierte Dienstleistung für soziale Reproduktionsarbeit ordnet die traditionellen sozialen und räumlichen Grenzen zwischen Praktiken der Produktion und der sozialen Reproduktion sowie deren (Un-)Sichtbarkeit neu. Die Transformation des Lebensmitteleinkaufs und des Kochens durch die Plattformisierung ist an die physische und psychosoziale Versorgung von Menschen in der häuslichen Sphäre gebunden und stellt die Unsichtbarkeit von Sorgearbeit in Frage. Essenslieferdienste vermischen und verlagern Räume der Produktion und sozialen Reproduktion: Während der öffentliche Straßenraum zum Arbeitsraum sowie der öffentliche Raum zum Warte- und Energie(lade)raum der Lieferant:innen wird, verwandelt sich der Privatraum der Wohnung in einen Raum der Freizeit und des Konsums. Die Freizeitassoziation erinnert an fordistische Traditionen der Wohnung als Regenerationsraum für Männer*, die in der Lohnarbeit der Mehrwertproduktion außer Haus tätig sind, und als Ort der Reproduktionsarbeit, nicht der Freizeit, für Frauen* („Hausfrauen“). Diese Plattformen sind somit ein paradigmatisches Beispiel für die Verwischung der Grenzen zwischen Produktion und sozialer Reproduktion, sichtbarer und unsichtbarer Arbeit und der damit verbundenen räumlichen und vergeschlechtlichten Trennung.

Hingegen manifestieren Plattformen, die Reinigungs- und Betreuungsdienste und somit bereits traditionell ausgelagerte Haushalts- und Sorgetätigkeiten vermitteln, diese Trennungen. Zudem stellen sie keine neue Form der Kommodifizierung dar. Neu ist hier zum einen das Dreiecksverhältnis und die Beteiligung der Plattform am „Gewinn“ und zum anderen, dass die digitale Vermittlung tendenziell auf beiden Seiten weniger Verbindlichkeit und Sorgsamkeit für das jeweilige Gegenüber (Kund:in – Arbeiter:in) mit sich bringt (Ecker, Rowek, und Strüver 2021).

Plattformen für Reproduktionsarbeit treiben die Individualisierung von Sorgeverantwortung voran.

Die zunehmende Kommodifizierung von Reproduktionsarbeit ist gleichwohl nicht für alle Haushalte leistbar und widerlegt die Annahme, dass Plattformen für Haushaltsdienstleistungen auf tatsächliche gesellschaftliche Bedürfnisse reagieren. Sie reagieren eher auf eine zahlungskräftige Nachfrage und treiben damit die Individualisierung von Sorgeverantwortung bzw. die Fragmentierung und Externalisierung von Reproduktionsarbeiten als Teil eines konsum- und/oder freizeitorientierten Lebensstils voran. Der letzte Punkt bezieht sich auf die Beobachtung, dass die Plattformisierung von sozialer Reproduktion auf intersektionalen Ungleichheiten – unter Kund:innen wie unter Arbeiter:innen – basiert. Wie oben angedeutet fehlt allerdings bislang die Erforschung der sozialen Situationen und Motivationen der Kund:innen. Auch bei denjenigen, die es sich leisten können ist unklar, ob sie die Plattformen aus Bequemlichkeit oder Zeitmangel, wegen großer oder kleiner Haushaltsgröße, als Belohnung oder als Notlösung nutzen.

Zudem führt, wie bereits erwähnt, die Vermarktlichung bislang nicht zur sozialen Anerkennung und/oder materiellen Aufwertung. Die Tätigkeiten werden zwar bezahlt, sie setzen aber die Tradition der Feminisierung und Prekarisierung der Arbeitsbedingungen fort. Demzufolge basiert die Unterscheidung zwischen Reproduktionsarbeit und Lohnarbeit, die „Werte“ produziert, mittlerweile nicht mehr auf Fragen der Bezahlung und Sichtbarkeit, sondern auf denjenigen, die sie ausführen: Arbeitsplattformen neigen dazu, sich auf die „Überschussbevölkerung“ einer (Stadt-)Gesellschaft zu stützen – auf strukturell benachteiligte Menschen, wie rassifizierte Minderheiten und Menschen ohne Arbeits-/Aufenthaltsgenehmigung – und diese zu absorbieren. Denn jenseits der Ausbeutung von Gig-Arbeiter:innen basiert der Plattformkapitalismus in seiner Verstrickung mit Rassismus auf Statusunterschieden zwischen Menschen mit Bürger:innenrechten und „rassifizierten ‚Anderen‘“ (Fraser 2023). Gig-Arbeiter:innen rassifizierter Minderheiten können daher nicht nur ausgebeutet, sondern auch enteignet werden, da sie mangels Aufenthalts- und/oder Arbeitserlaubnis keine Möglichkeit der regulären Vertragsbeziehung und Rechtsvertretung haben und sie ihre Existenz durch irreguläre Arbeit nicht sichern können. Ihre geleistete Arbeit wird gleichwohl konfisziert und in die Kapitalakkumulation der Plattform integriert. Enteignung ist somit Akkumulation mit anderen Mitteln: Während Ausbeutung unter dem Deckmantel eines Arbeitsvertrags Wert im Sinne der Kapitalakkumulation produziert, ist Enteignung Ergebnis einer vertraglich nicht abgesicherten Unterwerfung „unfreier Subjekte“ – deren Status (geo-)politisch produziert ist (Fraser 2023, 68f, 72ff). Die Unterscheidung zwischen Ausbeutung und Enteignung beruht daher auch auf staatspolitischen Ordnungen wie Migrations- und Arbeitsmarktregimen, die Statushierarchien zwischen Arbeitnehmer:innen als rechtstragenden Bürger:innen und Subjekten, die des politischen Schutzes beraubt sind, produzieren.

Vor allem Migrant:innen ohne Papiere werden aufgrund ihrer Situation leichter zum Gegenstand von Ausbeutung und Enteignung.

Um als günstiger und flexibler Service zu funktionieren sind Gig-Plattformen in Deutschland und Österreich also auf diese Überschussbevölkerung angewiesen. Vor allem Migrant:innen ohne Papiere werden aufgrund ihrer Situation, die auf struktureller Prekarität in Verbindung mit ihrem fehlenden rechtlichen Status beruht, leichter zum Gegenstand von Ausbeutung und Enteignung. Enteignung wird darüber hinaus zunehmend universalisiert. Dies verweist auf die für Gig-Arbeiter:innen unabhängig vom Rechtsstatus notwendigen unbezahlten Zeiten des Einloggens, des Wartens auf Aufträge sowie – für Reinigungskräfte – die Aktualisierung des eigenen Plattformprofils oder lange Anfahrtswege zwischen einzelnen Aufträgen.

Ausblick: Reorganisation und Repolitisierung der Reproduktionsarbeit?

Die Feminisierung, Rassifizierung und Nichtbezahlung von Reproduktionsarbeit war 250 Jahre lang die Voraussetzung für die Mehrwertproduktion und bildet(e) das Rückgrat jeder kapitalistischen Gesellschaft. Derzeit beginnt der Kapitalismus sich selbst zu verspeisen (Fraser 2023): Die Kommodifizierung sozialer Reproduktionsarbeit ist neben demographischen Veränderungen Ausdruck der fundamentalen Krise des Kapitalismus, die durch die Kommodifizierung von bisher nicht vermarkteten Sektoren wie Reproduktionsarbeit überwunden werden soll. Dadurch destabilisiert die Kommodifizierung eine der Grundlagen der Wachstumsbedingungen kapitalistischer Gesellschaften.

Die Reorganisation von Reproduktionsarbeit durch digitale Arbeitsplattformen wirft daher nicht zuletzt die Frage auf, inwieweit diese Entwicklungen zu einer Repolitisierung führen. Einerseits sind digitale Arbeitsplattformen Teil des neoliberalen Projekts, das darauf abzielt, soziale Reproduktion marktförmig zu organisieren und die Kosten dafür zu individualisieren. Andererseits bieten sie auch neue Anknüpfungspunkte für arbeits- und gesellschaftspolitische Debatten. Denn trotz Plattformisierung bleiben die strukturellen Probleme von Reproduktionsarbeit bestehen: prekäre Arbeitsbedingungen, fehlende gesellschaftliche Anerkennung und wachsende intersektionale Ungleichheiten.

Die Kritik an Plattformarbeit muss in eine Kritik des patriarchalen und rassistischen Kapitalismus als Gesellschaftsordnung eingebettet sein.

Zurück zum Ausgangspunkt: Die Umstellung der Rider-Verträge von Angestellte auf freie Dienstnehmer:innen bei Lieferando AT im Frühjahr 2025 hat in den Tageszeitungen, auch in Deutschland, ein großes Medienecho hervorgerufen und einmal mehr wurden die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen von Gig-Plattformen kritisiert. Dabei blieb und bleibt allerdings unbeachtet, dass der Mindestlohn (in Österreich basierend auf dem „Kollektivvertrag für Fahrradboten“) ohnehin viel zu niedrig angesetzt ist und sich daher gerade nicht „lohnt“. Daran gebunden ist die notwendige Abkehr von der Auffassung, Formalisierung von Plattformarbeit sei ein Allheilmittel: Formalisierung führt weder zur sozialen Anerkennung, noch monetären Aufwertung und ist für viele Gig-Arbeiter:innen wenig interessant.

Eine Repolitisierung von Reproduktionsarbeit muss daher auch die Vorstellung hinterfragen, dass Gig-Arbeit im Angestelltenverhältnis ein grundsätzlich gutes Ziel sei. Bislang ist die Arbeit als freie Dienstnehmer:in aus unterschiedlichen Gründen (schnelles, unbürokratisch organisiertes Einkommen, flexible Arbeitszeiten bei häufig fehlendem rechtlichen Arbeits- oder Aufenthaltsstatus) für viele Gig-Arbeiter:innen deutlich attraktiver. Die Kritik an der Plattformarbeit und das Plädoyer für eine vollständig formalisierte Beschäftigung im Bereich der Reproduktionsarbeiten sind daher irreführend, solange dies nicht in eine Kritik des patriarchalen und rassistischen Kapitalismus als Gesellschaftsordnung eingebettet ist. Dies würde bedeuten, die Prioritäten anders zu setzen, d.h. den sozialen wie materiellen Wert sozialer Reproduktionsarbeit anzuerkennen und darüber hinaus sensibel zu sein für individuelle Sorgeverantwortungen und -beziehungen einerseits und intersektionale gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse andererseits. Denn die plattformbasierte Vermarktlichung von Reproduktionsarbeit als Dienstleistungsarbeit beruht trotz teilweise verschobener sozialer und räumlicher Grenzen weiterhin zentral auf strukturellen Ungleichheiten, die der sozialen Reproduktion im Sinne gesellschaftlicher Lebensgrundlagen innewohnen.

Literatur

Ecker, Yannick, Marcella Rowek, und Anke Strüver. 2021. „Care on Demand: Geschlechternormierte Arbeits- und Raumstrukturen in der plattformbasierten Sorgearbeit“. In Plattformkapitalismus und die Krise der sozialen Reproduktion, herausgegeben von Altenried Moritz, Julia Dück, und Mira Wallis, 112–29. Münster: Westfälisches Dampfboot.
Fraser, Nancy. 2023. Der Allesfresser: Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Übersetzt von Andreas Wirthensohn. Deutsche Erstausgabe. Berlin: Suhrkamp.
Srnicek, Nick. 2021. „Value, Rent and Platform Capitalism“. In Work and Labour Relations in Global Platform Capitalism, herausgegeben von Julieta Haidar und Maarten Keune. Edward Elgar Publishing. https://doi.org/10.4337/9781802205138.00009.